Bericht von Hans Hlawaty 1957

Groß-Bieberauer Heimatvertriebene und ihre Herkunft

Bericht in "Der Odenwald" Jahrg. 1957 Heft 2 u. 3

von Hans Hlawaty


DIE HEIMATVERTRIEBENEN IM ODENWALD
DARGESTELLT AM BEISPIEL GROSS-BIEBERAU

Hans Hlawaty

Bei der Anfang d. J. vorgenommenen "Erhebung der Menschenverluste in den Vertreibungsgebieten" (Gesamterhebung) konnte festgestellt werden, daß jetzt noch 381 in ihrer Heimat geborene Vertriebene in Groß-Bieberau wohnen. Dazu kommen 78 Kinder, die bereits hier das Licht der Welt erblickt haben, nach dem BVG aber auch als Heimatvertriebene (HV) gelten. Wieviel der große Elendsstrom aus dem Osten in den Jahren 1945-47 hierhergebracht hat, läßt sich heute kaum mehr oder nur schwer ermitteln. Es müssen nahe an 600 gewesen sein, also fast ein viertel der alteingesessenen Bevölkerung. Daß da fürs erste jeder verfügbare Raum herhalten mußte, ist verständlich. Es wäre für beide Bevölkerungsteile von Nutzen, wenn sie sich recht oft die damaligen Verhältnisse vor Augen hielten, um die seither vollzogene Wandlung mehr zu schätzen, als dies vielfach zu beobachten ist.
     Nach den vorhandenen Aufzeichnungen sind inzwischen etwa 67 Familien und Einzelpersonen, insgesamt an 150 Köpfe zählend, in Orte umgezogen, wo sie Arbeit gefunden haben. Nur wenige Familien sind in dieser Zeit zugezogen.
     57 Heimatvertriebene ruhen bereits auf dem hiesigen Gottesacker. was die Herkunft der 381 eingangs genannten HV anbelangt, stammen 297 aus 29 sudetendeutschen Landkreisen, 22 aus 4 slowakischen, 21 aus 6 ostpreußischen, 11 aus 6 schlesischen, 9 aus 5 pommerschen, 4 aus 3 jugoslawischen Landkreisen, 8 aus Ungarn, je 3 aus Danzig und dem Wartheland und je 1 aus Westpreußen, Brandenburg und Rumänien. 59 Landkreise in 7 deutschen Provinzen und 5 fremden Staaten sind also durch sie vertreten!
     Die Wappen der Kreisstädte hat der BvD-Ortsverband in seinem "Ostlandstübchen" im Gasthause "Zur Linde" als vielsagendes Dokument angebracht. Sieht man doch daraus, daß in der scheinbar planlosen Austreibung ein teuflisches System lag: Die Menschen durch die Ausplünderung und Verjagung nicht nur zu entwurzeln, sondern durch ihre Zerstreuung jedwede Heimatgemeinschaft, ja die Familien selbst, zu zerreißen. Noch heute suchen Eltern ihre Kinder und umgekehrt.
     Der Herkunft aus so vielen Landschaftsgebieten entsprechend, ist auch eine Vielzahl der verschiedensten Berufe zu verzeichnen, vom Ostseefischer bis zum Bergmann aus Böhmen und der Slowakei und dem Weinbauer aus Südungarn.
     Besonders hervorzuheben ist der aus der Landwirtschaft kommende Anteil. Nicht weniger als 58 landwirtschaftliche Betriebe wurden auf Grund des Lastenausgleichsgesetzes angemeldet. Nur eine Familie konnte voriges Jahr auf einer Vollbauernstelle im Kreis Bergstraße angesetzt werden. Drei Söhne hv. Bauern heirateten hier in landwirtschaftliche Betriebe ein. Alle anderen hv. Landwirte sind zu berufsfremder Arbeit, meist als Hilfsarbeiter, gezwungen. Ebenso berufsfremd wachsen ihre Kinder heran.
     Von 19 Inhabern handwerklicher oder Handelsbetriebe konnten sich 4 wieder selbstständig machen.
     Alle 17 Angehörigen der Steinindustrie wurden von den hiesigen Betrieben gleicher Art aufgenommen, weil gerade in diesen Industriezweige ein empfindlicher Nachwuchsmangel herrscht. Fünf gewesene Werkmeister mußten sich allerdings mit der Beschäftigung als Steinschleifer bzw. Steinmetze abfinden und nur ein Steinstecher konnte wieder wie in der Heimat eine leitende Stelle erreichen.
     46 Familien - mit den Landwirten 104 - verloren durch die Vertreibung ihre Wohnhäuser. 28 Familien wohnen wieder unter eigenem Dache.
     Die berufliche Zusammensetzung der durch die HV vermehrten Ortsbevölkerung hat sich vor allem dahin verändert, daß die Zahl der in der Industrie Beschäftigten gegenüber den in der Landwirtschaft tätigen Arbeitskräften anstieg und damit auch die Zahl der "Pendler".
     In konfessioneller Beziehung ist ein bedeutendes Anwachsen des katholischen Bevölkerungsteiles zu verzeichnen, was zu Bau eines katholischen Gottesthauses führte, das im August d. J. vom Mainzer Bischof geweiht und seiner Bestimmung übergeben wurde.
     Bemerkt sei noch, daß durch das Ansteigen der Einwohnerzahl auf über 3000 die Bestellung eines hauptamtlichen Bürgermeisters notwendig wurde.
     1948 gründeten die HV den "Ortsverband des Bundes der vertriebenen Deutschen" (BvD), der z. Zt. noch 253 Mitglieder zählt. Er hat sich nicht nur als Anwalt der HV für ihr Lebensrecht im Westen bewährt, sondern auch als Verfechter ihres Heimatrechtes im Osten, das durch das Potsdamer Abkommen so schmählich mit Füßen getreten worden ist. Er führt einen zähen Aufklärungskampf gegen dieses Unrecht und sein Ziel ist es, die völkerrechtliche Sicherung des "Rechtes auf Heimat" zu erreichen, um weitere Menschenvertreibungen unmöglich zu machen.
     Seit 1953 besteht hier auch eine Ortsgruppe der "Deutschen Jugend des Ostens" (DJO).
     Durch seine Zusammenarbeit mit den bodenständigen Vereinen konnte der BvD-Ortsverband viel zum gegenseitigen Verstehen beitragen und die Kenntnis des deutschen Ostens und seines Wertes für Gesamtdeutschland in weite Kreise tragen.
     Zum "Tag der deutschen Einheit", zur Sonnenwendfeier, zum "Tag der Heimat" und an ostdeutschen Gedenktagen wendet er sich alljährlich an die ganze Bevölkerung. In seinen "Monatsversammlungen" will er ostdeutsches Kulturgut bewahren helfen. Vor 5 Jahren errichtete er, von der Gemeinde tatkräftig unterstützt, vor dem Kriegerdenkmal auf dem Haslochberge ein 8m hohes Eichenkreuz als weithin sichtbares Mahnmal. Als "Ostlandkreuz" soll es mahnen, daß im Osten nicht nur die HV ihre Heimat verloren haben, sondern alle Deutschen ein viertel ihres Vaterlandes.

Quelle:
Dokumentation zur Ausstellung 50 Jahre Kriegsende.
Herausgeber: Magistrat der Stadt Groß-Bieberau Januar 1997